Museum für einen Sommer 2006 – Schloß Sacrow

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Einführung

Der letze Schrei                                                  Die Theaterkostüme des Gabriel Hermida

Ars Sacrow e.V. stellt im „Museum für einen Sommer 2006“ achtzehn Kostüme aus, die der Kunstler und Bühnenbildern Gabriel Hermida, geboren 1965 in Acayucan, Veracruz/Mexiko, für die Bühne geschaffen hat. Alle Kostüme sind in den Jahren 2004 bis 2006 für zwei Neuinszenierungen nach Texten der zwanziger und dreißiger Jahre des XX Jahrhunderts entstanden. Die Ausstellung zeigt sie in zwei Werkgruppen.

Acht chinesisch inspirierte Arbeiten, die Gabriel Hermida im Jahr 2004 für die Aufführung nach Motiven des Stückes „Der Kreidekreis“ von Klaubend für das Teatro Molino entworfen hat, sind im Erdgeschoß von Schloß Sacrow zu sehen. Um diese Kostüme herzustellen, hat Hermida alte Materialien wie Steppdecken oder getragene Kleidung verarbeitet und nach dem Zuschnitt bemalt. Die Stückmaschen zu diesen Gewändern wurden von dem peruanischen Maskenmacher Edmundo Torres gefertigt.

Für eine Inszenierung in Anknüpfung an die Schnitter´sche Ursonate durch das Theater Intervall hat Hermida ein zechzig Quadratmeter großes (nur in der Farben Sand, Erde und Blau gehaltenes) Gemälde zum Ausgangspunkt seiner Arbeit gemacht. Dadurch wurde die Verwandtschaft aller Kostüme dieses Zyklus sichergestellt, die Individualität der einzelnen Flur nur durch Anlage des Schnittes betont.

In der Ausstellung sind diese Textilien Arbeiten von ihrer Funktion als Bühnenkostüm befreit, bleiben aber kalkulierte Fortschreibung expressionistischer Kleiderwelt. Sie werden zugleich zu Beispielen, wie man sich auch mit materiell bescheidenen Mitteln in seiner Kleidung unvergleichlichen Ausdruck  schaffen kann.

Die „Sacrow Klangskulpturen“ im Gartensaal des Erdgeschosses und auf beiden Fluren des ersten Geschosses von Schloß Sacrow, Installationen mit Klängen von Instrumenten, Menschen- und Vogelstimmen, stammen von dem Berliner Komponisten Stefan Streich.

Dr. Celia Isabel Gaissert

Obergeschoß

Die Kostüme zur „Ursonate“

Die Kostüme zur Aufführung nach Motiven der „Ursonate“ von Kurt Schnitters durch das Theater Intervall (Regie Stephanie Hecht) sind im Jahr 2006 entstanden. Die Textilien Arbeiten sollten eine art von Beweglichem Bühnenbild werden und in ihrer Erscheinungsform am ehesten Vögeln ähneln. Denn die Ursonate beruht auf einer Zerstückelung von Sprache zu reinem Klang. In druckgraphischer Veröffentlichung ähnelt sie eher einer Partitur als einem Text.

Die zehn Kostüme treten in fünf Paaren auf. Hermida entwickelte sie, durch die Natur der Ursonate als System von lauten bedingt, nicht anhand literarisch bestimmter Charaktere, sondern anhand der Person der Schauspieler. Wenn der Beobachter meint, einen Inka oder eine Kimonofrau zu entdecken, mag dies zufälligen Assoziationen des Künstlers bei der Arbeit entsprechen. Weitere Bedeutung hat eine solche Ähnlichkeit nicht. Deshalb sind die Kostüme in der Ausstellung nur mit der Folge von Lautet betitelt, mit der Einsatz des Schauspielers auf der Bühne beginnt. In jedem Fall unverkennbar als Inspirationsquelle sind die Tanzkostüme der Brandenburgerin Lavinia Schulz und ihres Mannes Werner Holdt aus dem zwanziger Jahren, die erste vor kurzem wieder als herausragende Zeugnisse expressionistischen Maskentanzes in Hamburg ausgestellt worden sind.

Prägender noch als diese Art Vorbildern erscheint die eigene von Hermida entwickelte Methode zur Herstellung der Gewänder. alle zehn Kostüme sind aus einem rund sechzig Quadratmeter großen Stoff geschnitten, einem überdimensionalen abstrakten Gemälde, das und drei Farben gehalten ist: Blau, einem hellen Rot ähnlich dem gekochter Krebse, und schließlich der Farbe von Sand. Anders als bei den Kreidekreis Kostümen, die erst nach ihrem Zuschnitt bemalt worden, wurde Malerei hier zum Ausgangspunkt der Arbeit an der Bühnenkleidung, konstruktiv für  den Schnitt wurde außerdem das Prinzip der „Halbierung“. Durch diese Teilung ergänzen sich jeweils zwei Kostüme eines Paares. Mit der Zerstückelung von Gewändern, auch der Öffnung an ungewohnter Stelle, etwa am Rücken, antwortet Hermida auf der moment der Zersetzung der Sprache, das in der „Ursonate“ angelegt ist, Auch in diesen Roben gibt es – wie schon in den Arbeiten im Erdgeschoß – keine Fremdkörper wie Reißverschlüsse oder Knöpfe. Nur Gebundenes ist zugelassen. Ob Frack oder Fransen – der letzte Schrei dieser Variante liegt in der eigene Kreation.

Dr. Celia Isabel Gaissert

 

Erdgeschoß

Die Kostüme zum „Kreidekreis“

Die im Erdgeschoß ausgestellten auch Kostüme sind aus vierundvierzig Entwürfen ausgewählt, die der Maler und Bühnenbildner Gabriel Hermida im Jahr 2004 für eine Neuinszenierung des Stückes „Der Kreidekreis“ in der Version Klaubend (1925) geschaffen hat, Das Zentrale Motiv des Stückes, das Aufspüren von Gerechtigkeit und wahrer Liebe, hatte Klabund (Alfred Hanschke) einer chinesischen Legende entnommen, die wiederum auf das biblische Thema vom salomonischen Urteil zurückgreift. Klabunds Theaterstück diente 1933 nicht nur als Ausgangspunkt für das Libretto der Oper „Der Kreidekreis“ von Alexander Zemlinsky, sondern wurde auch von Bertolt Brecht dem Theaterstück „Der Kaukasische Kreidekreis“ zugrunde gelegt.

Für die Neuauffassung des Stücks von Klabund durch das Theater Molino im Jahr 2004 (Regie: Jaime Tadeo Mikán) setzte Hermida bei der Kostümbildung darauf, alle Bekleidung aus vorgefundenen Materialien wie alten Steppdecken oder getragenen Kleiderstoffen herzustellen. Dies erschien zum eine naheliegend, um die materielle Not der Entstehungszeit auszudrücken. seine Wahl gibt zugleich auch die Bedingungen wieder, unter denen Kunst heutzutage noch entsteht. Hermida griff dabei auf Kleidungsformen zurück, die in China im Mittelalter herausgebildet worden sind etwa was Stoffart (Gaze), Verarbeitung (Stickerei) oder besondere Arten des Kopfschmucks betrifft.

Die Kostüme treten trotz ihrer schlichten Materialien eindrucksvoll auf, Dies liegt zum einen ihrer Bemalung, die sich sehr frei an der geographischen Herkunft der Legende vom Kreidekreis orientiert. Wenn der Eindruck besonderer Pracht entsteht, liegt dies an einem zweiten Kunstgriff: je böser die Figur, umso gewaltiger ihr Auftritt: Die Bösen tragen Gewänder aus Steppdecken, die Guten aus dünnem Stoff, „Der letzte Schrei“ in der Kleidung gelingt in dieser Werkgruppe durch einen Graf in bestehenden Fundus.

Dr. Celia Isabel Gaissert

Zur Eröffnung der Ausstellung „Der letzte Schrei“. Schloß Sacrow Potsdam 28.07.2006

Zum ersten Mal seit der Gründung des „Museum für einen Sommer“ kommen wir bei einer Ausstellungseröffnung in ein bewohntes Haus. Den Figuren, die uns empfangen, war nicht in die Wiege gelegt, hier zu erscheinen Entstanden sind für Inszenierungen von zwei höchst unterschiedlichen literarischen Texten der zwanziger Jahre in Deutschland – des Kreidekreis von Klabund und der Ursonate von Schwitters.

Dennoch behaupten sich die Gewänder an diesem Ort und Beweisen künstlerisch Autonomie weit entfernt von der Bühne, für die sie erschaffen wurden. Dies liegt nicht nur an der Klanginstallation des Berliner Komponist Stefan Streich, die sie umgibt und damit schützt. Fernab des ursprünglichen Auftrags, auf einer eng umgrenzten Bühne und von ihr herab zu wirken, treten die Kostüme uns erstmal auf Augenhöhe entgegen. Und wir selbst können uns an ihnen messen und entscheiden, ob wir die Hülle einer möglichen Existenz, die uns da gegenüber tritt, annehmen wollen oder aber nicht. In einem Barockkleid geht es sich anders als in einem Mandarinmantel. Der Mexikaner Gabriel Hermida nimmt deutsches und chinesisches Erbe zugleich in seine Hand und Macht es zu unserer Freude sichtbar, beweglich und damit neu.

Dass seine Figuren in Sacrow selbstverständlich wirken, mag damit zusammenhängen, dass beide Persönlichkeiten, die am Beginn seine beiden „Inspirationsketten“ standen. Brandenburger sind: Klabund, der Autor des Kreidekreises, wurde 1890 in Trossen geboren, Er sagte von sich: „Ich bin in der Mark geboren, aber früher einmal lebte ich in China, und schrieb, mit einer großen Hornbrille betan, kleine Verse auf große Seidensteifen.“ Lavinia Schulz, Urheberin der exaltierten Maskentänzen, ist 1896 in Lübben, in der Lausitz geboren. Märkischer Sand scheint für manche Fata Morgana nicht den schlechtesten Untergrund zu bilden.

Der Titel der Ausstellung „Der letzte Schrei“ soll nicht etwas von der Verrücktheit, sondern auch von der Not der zwanziger Jahre aufbewahren. Lavinia Schulz tötete 1924 in Hamburg zuerst ihren Mann, danach sich selbst aus Verzweiflung über die wirtschaftliche Lage – in einer Souterrainwohnung am Besenbinderhof wenige Meter nur von dem Museum entfernt, an dem später ihre Arbeit rekonstruiert und wiederaufgeführt werden sollte. Klaubend starb 1928. Und die Schauspielerin Elisabeth Bergner, die Klabund leichthin aufgefordert hatte; „Schreib doch etwas Chinesisches!“, musste mit ihrem Mann wenige Jahre darauf nach London emigrieren, weil sie und ihre Mann Juden waren.

Alle Kostüme, die wir hier sehen, sind mit geringstmöglichem Etat hergestellt worden. Dies hat keine Auswirkung auf das Ergebnis, sehr wohl aber auf den Prozeß ihrer Herstellung gehabt. Wie hat Egon Friedell, der österreichische Schriftsteller, gesagt? „Kultur ist Reichtum an Problemen.“ All das, was im Erdgeschoß so kostbar erschient, ist aus getragenem Material hergestellt worden. Je gewaltiger der Auftritt – umso böser die Figur, wie zuweilen im Leben auch. Die unvergleichliche Gesichtsmasken von Edmundo Torres sind darauf angelegt, diesen Eindruck hervorzurufen. Für die Kostüme nach der Ursonate griff Hermida auf ein sechzig Quadratmeter großes Gemälde zurück und zerteilte es ebenso in Teile wie Schwitters einst die deutsche Sprache zerlegt haben mag. An manchem Fragmente erkennt man das Ganze…

So unterschiedlich das Erscheinungsbild beider Zyklen auch ist – gemeinsam ist ihnen das Prinzip. keine Fremdkörper in der Kleidung aufzunehmen.,weder Knöpfe noch Reißverschlüsse. Alles beruht wiederum wie im Leben auf Bindungen und Verbindung, auch deshalb bin ich über diese Ausstellung an diesem Ort glücklich.

Dr. Celia Isabel Gaissert